Der alte Mann saß dort, auf seiner Decke vor der Hütte und rauchte seine Pfeife. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag im letzten Sommer. Mein Großvater war damals schon ein sehr alter Mann. Ich weiß nicht wie alt, aber Oma sagte immer, er habe sogar noch die Besiedlung der ersten Kolonie miterlebt. Natürlich stimmte das nicht, aber sie übertrieb gerne.
Ich hatte Großvater immer geliebt. Sein dunkles, faltiges, weises Gesicht war umrandet von weißem, langen Haar. Seine Augen blickten scharf in die Gegend. Er schien jedes einzelne Detail in seinen Geist aufzunehmen. Als ich jünger war, zog er immer mit mir in die Felder hinaus, um mein Gespür für die Geister zu entwickeln. Ich habe bewundert, wie er manchmal ein Kaninchen in hundert Meter Entfernung wahrnehmen konnte. Er hat nur gelauscht. Heute besuche ich ihn wieder. Es ist mein Geburtstag und ich habe ihn immer an meinem Geburtstag besucht. Wir haben dann zusammen gesessen und gesprochen, einen Trank getrunken, der das neue Lebensjahr heiligen sollte und einfach die Natur angeschaut. Mom
und Dad wollten nicht, daß ich zu oft mit ihm Kontakt habe, weil er noch immer im Reservat
wohnt. Sie meinen, es sei gefährlich in den Reservaten, weil dort oft geprügelt und sowieso
immer getrunken werde. Ich habe das schon öfter miterlebt, aber Großvater lehrte mich, daß
diese Menschen nicht böse, sondern hilfsbedürftig wären. Heute habe ich eine Schale, die ich
im Unterricht in der Schule gemacht habe, als Geschenk mitgebracht. Großmutter sieht mich
schon von weitem. Ihr faltiges Gesicht hellt sich auf und sie legt ihre Stickerei beiseite.
„Kind!“ Sie schließt mich in ihre Arme und ich fühle, daß ich zu Hause bin. Ich gebe ihr die
Tonschüssel mit den Malereien. Großmutter betrachtet sie und lächelt. Ich mag ihr Lächeln.
Es ist warm und voller Gefühl. Ich weiß, daß sie ihr gefällt. „Großvater erwartet dich schon!“
sagt sie zu mir und ich betrete die Hütte. Ich mag die Spärlichkeit der Einrichtung. Die Möbel
sind aus einfachem Holz und es sind nicht viele. Großvater sitzt in seiner Ecke auf seinem
Fell und raucht seine Pfeife. „Komm, setz dich zu mir!“ Lädt er mich ein und ich setze mich
auf das Fell. Seine weisen Augen sehen mich lange an, dann lächelt er. „Du hast etwas auf
dem Herzen!“ – „Ja!“ sage ich erstaunt. Ich glaube, daß Großvater manchmal die Gedanken
der anderen Menschen lesen kann. „Ich hatte einen Traum letzte Nacht. Einen sehr
verwirrenden! Ich war ein Adler! Und ich konnte fliegen, aber irgend etwas hielt mich davon
ab!“ erzähle ich, während er mir ein Gefäß mit seinem Trank reicht. „Mmm…“ macht er
zustimmend und ich seufze. „Ich weiß nicht, was es bedeuten soll, aber es hat mich traurig
gemacht!“ flüstere ich und Großvater nickt. „Der Adler ist das Symbol eines Königs. Er
besitzt eine große Würde und Weisheit… und doch ist er ein Einzelgänger. Der Adler ist
rastlos und braucht seine Freiheit.“ Er trinkt einen Schluck und schweigt dann lange. Ich sehe
auf das flackernde Feuer der Kerze. Dann höre ich seine dunkle, beruhigende Stimme. „Wenn
du glaubst, daß du ein Adler bist, dann mußt du dein Schicksal annehmen!“ Ich blicke ihn
verwirrt an, doch ich sehe keine Antwort auf die rätselhaften Worte in seinen dunklen Augen.
Er lächelt. „komm! Lass uns ein wenig spazieren gehen! Die Natur und die Menschen sind
eines… sie unterscheiden sich nur in einem Punkt!“ Er zündet sich eine neue Pfeife an und
zieht einige Male. Ich mag den Geruch des Tabaks. „Die Natur strebt auf die Veränderung zu,
der Mensch versucht mit aller Gewalt Veränderungen aufzuhalten! Das ist das Problem! Der
Verstand des Menschen ermöglicht ihm, logisch zu denken, aber leider entwickelt er auch
eine Angst vor dem, was er nicht weiß!“ fährt er fort. Ich schüttele den Kopf. „Ich verstehe
nicht, was das mit meinem Traum zu tun hat!“ – „Komm!“ Großvater nimmt meine Hand und
zusammen machen wir einen Spaziergang durchs Reservat und verlassen es schließlich und
den anderen Teil der Stadt anzusehen. Hier empfängt mich gleich der Autolärm und Krach
einer normalen Stadt. Leute rufen und Hunde bellen. Großvaters Gesicht bleibt ausdruckslos.
Ich weiß, daß er nun möchte, daß ich einfach meine Umwelt betrachte und bewußt
wahrnehme. Ich sehe einen Mann, der mit seinem Hund spazierengeht. Eine alte Frau, die ihre
Einkäufe nach Hause trägt. Eine Gruppe Jugendlicher, die uns mustert und anfängt, zu lästern.
Ein Ehepaar mit einem kleinen Kind, das weint, weil es anscheinend etwas nicht darf.
Großvater bleibt stehen und wir schauen eine Weile zu. Ich kann die Stimmen hören.
„Mommy! Ich möchte aber noch auf den Spielplatz!“ – „Heute abend nicht mehr! Es wird zu
spät, und du bist noch zu klein, um alleine zu bleiben!“ – „Mommy!“ Dann sind sie vorbei.
Großvater geht weiter mit mir, bis wir das Reservat wieder betreten. Zunächst gehen wir
durch Felder, dann langsam kommen wieder die ersten Hütten in Sicht. Plötzlich hält
Großvater mich fest und zeigt in einen Baum. Ich folge seinem Blick und sehe ein Nest. Das
Nest eines Falken. Wieder einmal wundere ich mich, wie Großvater es entdecken konnte. Ein
kleiner Falke sitzt im Nest. Ich kann sein kleines Köpfchen ängstlich über den Rand schauen
sehen, während es sich an den Zweigen festkrallt. „wo ist seine Mutter?“ frage ich und
Großvater deutet in die Luft. „Dort!“ sagt er leise. „Aber das Kleine wird gleich aus dem Nest
fallen!“ – „Nein!“ sagt Großvater. Und tatsächlich. Als der kleine Falke das Gleichgewicht
verliert, fängt er an, mit seinen Flügeln zu schlagen. Ich staune und Großvater sieht mich ernst
an. „Siehst du nun den Unterschied?“ Und da beginne ich zu begreifen. „Ja!“ sage ich. „Ja,
ich glaube, ich verstehe ihn.“ Großvater nickt. „Der Falke… hat gewußt, daß nun, da sein
Kleines gelernt hat, zu fressen und ihm Federn gewachsen sind, die Zeit gekommen ist, daß er
für sich alleine sorgt! Menschen tun das Gegenteil! Deshalb leben sie nicht mehr mit der
Natur im Einklang. Sie wollen Veränderungen nicht wahrhaben!“ Und während er das sagt,
wird mir klar, was seine Geschichte mit meinem Traum zu tun hat. Und ich weiß, was er mir
sagen will. Ich lächele. „Großvater… ich werde die Stelle in Europa annehmen!“ flüstere ich
leise und fahre dann lauter, sicherer fort: „Ich werde anfangen, dorthin zu fliegen, wo es mich
hinzieht!“ Er blickt mich ernst an, dann lächelt er und nickt. „Der große Geist Manithou und
all die anderen mögen dich auf deiner Reise beschützen!“ Dann gehen wir langsam zurück zu
der Hütte meiner Großeltern.
-ENDE (1999)
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